Junge Wohnungslosigkeit "keine Randerscheinung" - Direktor Schwertner fordert bundesweite Gesamtstrategie und einheitliche Standards in Kinder- und Jugendhilfe
Wien, 07.10.2025 (KAP) Wohnungslosigkeit in Österreich hat ein junges Gesicht und ist keine Randerscheinung: Darauf hat die Caritas der Erzdiözese Wien bei einer Pressekonferenz in Wiens einzigem Notquartier für Jugendliche "a_way" aufmerksam gemacht. "Wir haben beim Thema Obdachlosigkeit Bilder im Kopf, doch nur selten das Bild von Kindern und Jugendlichen", sagte Caritas-Direktor Klaus Schwertner. Das Thema bekomme darum weit nicht genug Aufmerksamkeit. Dabei sei ein Drittel aller wohnungslosen Menschen in Wien unter 30 Jahre alt, also rund 5.000 Betroffene. Am Dienstag präsentierte die Caritas Ergebnisse einer Erhebung zur Jugendwohnungslosigkeit in der Notschlafstelle "a_way" sowie im Caritas-Wohnhaus JUCA und stellte Forderungen an die Politik, um den Schutz junger Wohnungsloser zu fördern.
Die Dunkelziffer der Betroffenen liege weit höher, doch es gebe österreichweit keine validen Daten, so Schwertner. Dringend fordert die Hilfsorganisation darum eine systematische, regelmäßige und wissenschaftliche Erhebung über junge wohnungslose Menschen, um auch Trends und Entwicklungen zu erkennen und zu prüfen, welche Maßnahmen wirksam sind und welche noch getroffen werden müssen. Zudem brauche es eine bundesweite Gesamtstrategie im Einsatz gegen junge Wohnungslosigkeit. "Wir brauchen mehr spezifische Angebote für junge Wohnungslose und österreichweit einheitliche Standards im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe", kritisierte Schwertner den "Fleckerlteppich" bei Mindeststandards in den Bundesländern.
Psychische und physische Gewalt in den Familien
Um mehr Erkenntnisse über eine bislang wenig erforschte Zielgruppe zu gewinnen, hat die Caritas deshalb eigene Daten in ihren beiden Wiener Einrichtungen für wohnungslose Jugendliche und junge Erwachsene erhoben. In den vergangenen 20 Jahren wurden in Wien mehr als 10.000 junge wohnungslose Menschen von der Caritas unterstützt und begleitet, allein im a_way über 58.000 Nächtigungen gezählt, wie die Hilfsorganisation informierte. Neben einer Gesamtbetrachtung wurden für die Erhebung Fälle von 130 Betroffenen im a_way und 570 Menschen im Wohnhaus JUCA seit 2018 qualitativ und quantitativ erhoben.
Dabei zeigten die Datenauswertungen, dass biografische Brüche signifikante Auswirkungen auf die langfristige Stabilität und die Wohnchancen der Menschen haben, wie JUCA-Leiterin Maresi Kienzer und a_way-Leiter Tom Aldrian erklärten. Die häufigste und seit 20 Jahren konstant gebliebene Komponente sei psychische und physische Gewalt in der Familie, so Aldrian. 76 Prozent der Klientinnen und Klienten hätten den Kontakt zu ihren Familien abgebrochen. Die Hälfte war bereits in Kontakt mit der Kinder- und Jugendhilfe (MA 11), rund ein Drittel hat bereits auf der Straße oder in einer Notschlafstelle geschlafen.
Oft gebe es auch einen Bruch mit etwa 15 Jahren, wenn die Schulpflicht ende und die Schule nicht erfolgreich abgeschlossen wurde, führte Aldrian aus. Auch rund um die Volljährigkeit finde ein Systemwechsel statt. Manche Eltern fühlten sich nicht mehr verantwortlich und staatliche Unterstützungsleistungen fielen weg. Gründe für junge Wohnungslosigkeit könnten auch die Trennung von einem Partner sein. Manche von den Betroffenen würden in prekären Verhältnissen arbeiten, wobei die Entlohnung nicht ausreiche, um für eine Wohnung aufzukommen, ergänzte Kienzer.
Scham und Traumata
Jede Unterbrechung der Wohnform verschlechtert die Möglichkeit auf eine stabile Auszugskategorie um jeweils 13,8 Prozent, nannte Kienzer konkrete Zahlen. Haben junge Menschen bereits eine Delogierung hinter sich, bevor sie in eine Einrichtung der Caritas kommen, steigt die Wahrscheinlichkeit, nach dem Auszug prekär zu wohnen, um 89 Prozent. Und eine Nacht auf der Straße oder in einem Notquartier senkt die Chance auf ein gesichertes Zuhause nach dem Auszug um 58 Prozent. Haft führt dazu, dass Personen mit 62 Prozent Wahrscheinlichkeit in einer schlechteren Auszugskategorie landen.
"Je mehr biografische Brüche die Bewohnerinnen und Bewohner in der Vergangenheit erlebt haben, desto schwieriger wird es für sie, langfristig in stabilen Wohnverhältnissen Fuß zu fassen", so Kienzer. Zudem brauche es je nach Schweregrad auch mehr Zeit, um die Jugendlichen zu unterstützen, die oftmals von Gewalterfahrungen, Angst oder erlebten Traumata auf der Straße belastet sind.
"Wir haben ein sogenanntes 'window of opportunity', ein Zeitfenster, in dem wir eingreifen können. Je später das geschieht, umso länger dauert es für uns, mit ihnen Traumata aufzuarbeiten", wies Aldrian auf die Wichtigkeit von frühzeitiger Hilfe hin. Viele der Jugendlichen würden sich zunächst mit "Couchsurfing", also dem Übernachten bei Freunden, "retten" oder aus Scham draußen übernachten. "Später erzählen sie uns, sie hätten sich früher Hilfe suchen sollen, aber die Scham war zu groß", so Aldrian.
"Kein Zeichen persönlichen Scheiterns"
"Wohnungslosigkeit ist kein Zeichen persönlichen Scheiterns, sondern zeigt Lücken im System auf", betonte Kienzer. Die Caritas fordert darum mehr Ressourcen für die Kinder- und Jugendhilfe, wobei ein spezieller Fokus auf die Unterstützung von Care Leavern - also jungen Erwachsenen, die nach der Volljährigkeit aus der Kinder- und Jugendhilfe herausfallen - gelegt werden sollte. Das Betreuungsangebot sollte österreichweit bis zum 24. Lebensjahr verlängert werden und nicht mit dem 18. Lebensjahr enden, hieß es seitens der Caritas. Dazu Kienzer: "Im Schnitt ziehen junge Menschen in Österreich erst mit 25 Jahren von zuhause aus - doch gerade von den vulnerabelsten jungen Menschen erwarten wir Selbstständigkeit ohne Unterstützung ab dem 18. Geburtstag."
Um junge Menschen auf ihrem Weg in ein eigenständiges Leben und Wohnen unterstützen zu können, bittet die Caritas um Spenden. "Jede Spende hilft uns, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Notlagen beizustehen - etwa beim Kauf von Lebensmitteln, beim Ersetzen abgetragener Kleidung, aber auch bei der Anschaffung von Möbeln", so Schwertner, der ein besonderes Anliegen an die Gesellschaft richtete: "Ich wünsche mir einen achtsameren Umgang mit Urteilen und Vorurteilen bei jungen Wohnungslosen, die oft als 'Gfrasta und Taugenichtse' beschimpft werden." Auch sie seien Kinder, die Hilfe brauchen. "Wir dürfen diese jungen Menschen nicht im Stich lassen und müssen dafür sorgen, dass sie echte Chancen auf ein gutes und selbstständig geführtes Leben haben", so Schwertner.
Mit 18 Euro werden junge Erwachsene mit einem Willkommenspaket auf dem Weg in eine eigenständige Zukunft unterstützt. (Caritas-Spendenkonto: IBAN: AT23 2011 1000 0123 4560, Kennwort: Hilfe für wohnungslose Jugendliche)